Die Künstler:innen-Plattform denialofservice.fail hat mit “THE CRYSTAL HEAVEN LOUNGE” und “Das Fundament” zwei faszinierende immersive Welten zum Thema Freiheit erschaffen.

Von Timo Koch

Im hintersten Zimmer der verschachtelten Installation beobachte ich Mia dabei, wie sie sich darin übt, der sinnlichen Unity – Franziska Jack Willenbachers Alter-Ego – mit einer Neunschwänzigen Katze den Hintern zu versohlen; natürlich mit deren Einverständnis. Die ersten Schläge, die Mia ausführt, sind noch zögerlich und schlecht gezielt. Dann aber ist das satte Klatschen auf Unitys fast nackten Hintern vermutlich bis in die Kammern neben uns zu hören. Was dort zur selben Zeit passiert, weiß hier, in der von mir so getauften “Spank Cave”, von uns Dreien niemand. Hin und wieder kommen andere Spielende dazu, auf der Suche nach einem Instrument, oder um von der eben beobachteten Bondage-Performance zu erzählen, oder um uns darauf aufmerksam zu machen, dass wir bei dem ganzen Spektakel in den Cam-Show-Kabinen nicht den nächsten großen Auftritt auf der Hauptbühne vergessen sollen.

Vorerst bleibe ich aber noch in der Spank Cave und greife selbst zur Peitsche. Oder vielmehr greift Zadek zur Peitsche, in dessen Rolle ich vor einigen Stunden geschlüpft bin. Zadek ist ein klein wenig nervös, doch die wiederholte Forderung Unitys “Härter!”, ihr intensiver Augenkontakt und ihr bezauberndes Lächeln machen es ihm sehr leicht, die Interaktion zu genießen. An deren Ende jedenfalls haben sich nicht nur Zadek, sondern auch ich mich ein bisschen verknallt. Trotzdem wird es über die gesamte Dauer des Abends nicht einfacher werden, sich zwischen den breit gefächerten, bunten Spielangeboten zu entscheiden.

Im Panke Club + Gallery im Berliner Wedding finden am zweiten Tag des PAF 2022 die unterschiedlichsten Wesen Zuflucht in den Installation- und Game-Performances „THE CRYSTAL HEAVEN LOUNGE“ (CHL) und „Das Fundament“, beide geschaffen von der Künstler:innen-Plattform denialofservice.fail, kurz: DOS.FAIL.

Wer die Berliner Clublandschaft kennt, weiß von ihrer Funktion als safer spaces. Das heutige Setting, das beiden Performances gemein ist, versucht, diese Wirkung zu potenzieren: In einer dystopischen Gesellschaft, in der ein allmächtiges System mittels permanenter, biometrischer Massenüberwachung die Menschen vollständig kontrolliert, versprechen die Gastgeber:innen nicht weniger als die Loslösung vom System, komplette Freiheit und die Erfüllung aller Träume! Während bei „CHL“ die Suche nach Freiheit im kollektiven Zusammenspiel von rund 40 Spielenden im Vordergrund steht, rückt bei „Das Fundament“ in einer intimen Runde mit insgesamt 13 Akteur:innen die Frage in den Fokus, wie sich die individuelle Freiheit der Beteiligten überhaupt definiert. Auch eine der zentralen Fragen des diesjährigen PAF wird hier verhandelt: Wie wollen wir zusammen leben?

Sowohl Besuchende als auch die Mitglieder von DOS.FAIL schlüpfen zu Beginn in die Rollen ihrer zuvor geschaffenen Spiel-Charaktere und gestalten den Verlauf der bespielbaren Simulation miteinander. Gemeinsam zählen wir laut den Countdown: “Drei, Zwei, Eins, Fantasy-Check!” Das Regelwerk ist schlicht und basiert auf einigen wenigen Vereinbarungen, um das Wohlbefinden aller Spielenden zu gewährleisten. In den Feedback-Gesprächen, die beide Performances beschließen, kritisieren mehrere Besucher:innen den Mangel an vorgegebenem Narrativ, der mit den knapp gehaltenen Regeln einhergeht. Auch ich erlebe während „CHL“ und „Das Fundament“ diverse Momente, in denen ich mich ein wenig verloren fühle und nicht so recht weiß, was ich denn nun machen soll, um endlich, endlich diese tolle Freiheit zu empfinden. Es sind allerdings nur wenige Momente und selbst diese empfinde ich in der Rückschau auf die Performances als produktiv.

Die „CHL“ lässt zunächst auch kaum Zeit, um sich einem Verloren-Sein hinzugeben. Das Geschehen, das mit einem starken Auftritt von Jano Jonas in seiner Rolle als Kassandra Sandra beginnt, ist zunächst angelehnt an eine Drag-Show. Die Teilnehmenden verkleiden sich, präsentieren sich unter den anfeuernden Rufen Kassandras (“Remember: Your government hates you!”) der Menge. Dann verteilt sich das Geschehen auf die rund sechs Räume der Installation. Mal sehr physisch – beim Spanking oder bei Ausflügen in die Welt des Shibari-Bondage –, mal philosophisch, in tiefschürfenden Gesprächen und auf vielen anderen Wegen nähern sich die Besuchenden Fragen rund um den Freiheitsbegriff. Inspiriert durch den Austausch untereinander oder durch das charmant gestaltete Aufeinandertreffen mit den Performenden von DOS.FAIL.

Auf ihrer Internetseite formulieren DOS.FAIL hohe Maßstäbe an sich selbst: kritische, diverse, transparente und aufrichtige Vorgehensweise bei ihren Projekten; ein offener, kommunikativer Austausch mit gleichwertigen, mitgestaltenden Besuchenden; und das Ganze soll sich auf möglichst spielerische Weise von anderen künstlerischen Arbeiten unterscheiden. Die Performenden von DOS.FAIL versuchen auf unterschiedliche Weise, hierfür einen Raum voller Möglichkeiten zu schaffen. Ob dieses Potenzial in Gänze ausgeschöpft werden kann, liegt jedoch zuletzt in den Händen der Teilnehmer:innen und deren Willen und Fähigkeit, sich in kurzer Zeit auf eine etwas konfuse Welt voller schillernder, starker Individuen einzulassen.

Was die Gleichwertigkeit der Teilnehmenden angeht, bleibe ich hinsichtlich beider Performances skeptisch. In „CHL“ besucht eine Schar von Menschen erstmalig eine wilde Party und trifft auf eine Stammkundschaft, in „Das Fundament“ sind es Neuankömmlinge, die in eine WG-artige Unterkunft mit langjährigen Bewohner:innen treffen. Letztere werden jeweils von den DOS.FAIL-Protagonist:innen gespielt. In beiden Fällen erlebe ich eine Diskrepanz im Wissen um die erschaffene Welt, in der wir einander begegnen und in der Fähigkeit, sich in dieser zurecht zu finden. Auch wenn einiges davon durch das liebevolle und einfallsreiche Spiel der DOS.FAIL-Künstler:innen überbrückt wird, bleibt der Eindruck, dass ich unterlegen bin in meiner Fähigkeit, innerhalb der Simulation zu navigieren. Beim Thema Diversität hat das Kollektiv augenscheinlich noch Nachholbedarf in der eigenen Zusammensetzung, was People of Colour und Menschen mit Behinderung angeht. Der erst 2018 gegründeten Plattform sollte hier – auch vor dem Hintergrund der andauernden Corona-Epidemie – aber noch Zeit eingeräumt werden, um die selbst proklamierten Ziele zu erreichen.

Doch das sind Details. Generell verliere ich mich über weite Teile der acht Stunden beider Performances in der von DOS.FAIL geschaffenen Welt. Als Zadek erfahre ich Zugewandtheit, aufrichtiges Interesse und ehrliche Auseinandersetzung mit den Spieler:innen des Abends: ein Kompliment von der mächtigen Kassandra Sandra zu einem meiner Kleidungsstücke, eine Fußwaschung mit anschließender Massage, während mir Wanja Neite in seiner Rolle als Shawn Dark sanft ein herzerwärmendes Gedicht ins Ohr flüstert und, ach ja, richtig: das Gefühl von Unitys Haut auf der meinen.