Von Anna-Dora Schellenberg
„Please use all your mobile devices” sagt die Autotune-Stimme des Avatars auf dem Laptop-Bildschirm, die mich begrüßt, als ich den Vorraum des Ringtheaters betrete. Hier sollen die Besucher*innen ihre Handys keinesfalls wegstecken, sondern werden vielmehr dazu aufgefordert, sich über einen Link in einem dubiosen Dating Portal anzumelden.
Noch deutet wenig darauf hin, dass die bereits im Warteraum beginnende 45-minütige Performance „Singles Near You“ von Melanie Sien Min Lyn den Umgang mit der Objektifizierung von Frauen durch Machtgefälle und Identitätsmissbrauch im Internet verhandelt. Denn erstmal kann jeder, der Teil des Chatrooms wird, beim Warten direkt mit anderen Besucher*innen texten (und flirten). Als sich wenige Minuten später die Türen öffnen und alle platznehmen, ist mein Akku deshalb schon halb leer und die Stimmung gelöst.
Der Raum des Berliner Ringtheaters in der Alten Münze ist in drei größere Bereiche von Stuhlreihen eingeteilt und wird durchbrochen von Möbeln, die eine Wohnung andeuten: Ganz links befindet sich eine Dusche, fünf Meter weiter eine kleine Küchenzeile mit einem Stapel Instantnudeln im Regal; rechts steht ein Bett mit pink-grünem Bettlaken. Darauf sitzt Performerin und Autorin Melanie Sien Min Lyn entspannt im Pyjama und tippt im Licht ihres Laptops. Anfangs hört man nur das plätschernde Rumoren von aufpoppenden Nachrichten. Was sie im Dating-Chatprogramm „Singles Near You“ schreibt, wird bald zeitgleich auf die große Leinwand übertragen.
Schnell fühlt man sich als Teil von etwas sehr verboten-intimem, denn Melanies Chats, die sie mit mindestens vier Personen gleichzeitig führt, haben einen hohen Unterhaltungsfaktor. Während die Augen von einer live getippten Nachricht zur nächsten fliegen, wird im Publikum gelacht und gekichert – viele scheinen sich beim Lesen peinlich berührt an die eigenen Bumble- oder Tinder-Chats zu erinnern. Denn da stehen auch die Namen der Besucher*innen, die sich vor Beginn angemeldet haben und so ist nicht ganz klar, wer da gerade welche Nachrichten schreibt. Der Blick wandert verlegen und neugierig zugleich durchs Publikum und zu den anderen Handyguckern.
Als die Performerin den Laptop nimmt und ihn samt Verlängerungskabel mit in die Dusche trägt, wo sie Fotos von ihrem Torso macht, ist man bereits viel zu sehr involviert und fast enttäuscht, als alle Chats abrupt enden. Die Lichter gehen an, Melanie Sien Min Lyn setzt sich aufs Podest vor der Leinwand und lässt sich von einem Avatar mit ihrem Aussehen und Autotune-Stimme befragen.
Keine zehn Minuten sind vergangen – und schon gibt’s ein Publikumsgespräch? Die Performerin bedankt sich bei allen, dass sie extra zum Talk geblieben sind. Sie erzählt, dass sie selbst drei Monate lang als professionelle Catfisherin für ein „Pay-per-minute“-Erotik-Chatportal gearbeitet habe. Sie beschreibt die skurrilen, sexuell aufgeladenen Unterhaltungen mit den Michaels, wie sie sie nennt. Zum Chatten nutzte sie drei verschiedene Identitäten, die mit zur Verfügung gestellten Bildern gespeist wurden, die, wie sie vermutet, aus gestohlenen Datenbanken stammten.
Eben lachte man noch, nun stellt man sich die Frage, wie sehr einem so ein Job wohl gegen die eigenen moralischen Grundsätze geht. Wenn Melanie wenig später wieder zu texten beginnt, liest man die Dialoge kritischer. Ihre Chats mit Michael 1 bis 3 verfolgt man plötzlich mit einem gewissen Ekel, weil schnell deutlich wird, wie misogyn und sexistisch die Tonalität der Unterhaltungen ist.
Melanie, die online zum Beispiel Helena heißt und vorgibt, statt Mitte 20 Anfang 40 zu sein und in einer unerfüllten Ehe etwas Ablenkung zu suchen, geht ganz auf die Bedürfnisse der Männer ein, verteilt großzügig Verständnis und Komplimente und zögert gleichzeitig jedes geforderte Nacktbild hinaus. Das Publikum folgt den Chats zwischen erotischer Aufladung, toxischer Männlichkeit und Verzögerungstaktik, sieht aber auch Melanie dabei zu, wie sie im Bett YouTube-Workouts macht und Instantnudeln isst. Denn es ist eben auch nur ein Performance-Job: Jeder virtuelle Lacher, jedes „Oh Honey, du schmeichelst mir!“, jedes biografische Detail ist gespielt, nicht echt. Wer ist hier eigentlich das Opfer – die Männer, die glauben, mit echten Frauen zu chatten und dabei abgezockt werden? Oder die Frauen, weil deutlich wird, wie sehr die Typen im Netz sie zu bloßen Objekten und Projektionsflächen ihrer Begierden machen?
So zeigt die immersive, multimediale Performance spielerisch die Abgründe der männlichen Lust – ohne erhobenen Zeigefinger. Sien Min Lyn nutzt die Mechanismen des Online-Flirts und die Schwächen ihrer männlichen Chat-Partner virtuos, gewinnt die Oberhand. Als ein Typ schließlich vehement ein Nacktbild fordert, kommen ihre Torso-Fotos zum Einsatz, bearbeitet mit der höchst umstrittenen App Deepnudes, die es ermöglicht, bekleidete Frauen nackt zu zeigen. Was dabei rauskommt, ist jedoch voll von Glitches und weit entfernt von sexy Frauenkörpern. Dennoch wagt der Abend hier einen kurzen Blick in die Abgründe der digitalen Welt – Opfer eines Fakes zu werden, lässt sich nur verhindern, wenn man sich vollkommen aus dem Netz zurückzieht. It’s a man’s world, gerade im Internet. „Singles Near You“ aber zeigt, dass es Strategien gibt, sich zu wehren, auch wenn sie selbst moralisch fragwürdig sind.