∇ – das Zeichen des umgedrehten Dreiecks heißt „Nabla“, und so heißt auch die Stadtführung über den Rosa-Luxemburg-Platz des Theaterkollektivs „Theater Ohne festen Wohnsitz“ – ein Teil des Programms des Performing Arts Festival Berlin 2022. Ich habe mich mit Florentine Schara, Philipp Urrutia und Lena Schulze Frenking vom Kollektiv getroffen, und mit ihnen am Rosa-Luxemburg-Platz über ihr Projekt geredet.

Von Fabian Leßmann

Florentine, Lena, Philipp, wie muss man sich eure Stadtführung so ungefähr vorstellen?

Florentine Schara: Wir sind zwei Performer:innen und führen einmal um den Rosa-Luxemburg-Platz und die Linienstraße herum. Wir kommen aus der Zukunft und erzählen, warum wir jetzt unsere zukünftige Zeit so erleben, wie wir sie erleben.

Ihr kommt aus der Zukunft?

Florentine Schara: Ja, die ganze Stadtführung spielt im Jahr 2029. In unserer Realität hat der Lockdown niemals aufgehört, die Menschheit ist dabei, sich selbst abzuschaffen. Der Rosa-Luxemburg-Platz steht als dreieckige „Nabla-Zone“ im Mittelpunkt von all dem. Als Ort, an dem die verschiedensten Menschen im Verlauf der Geschichte immer wieder aufeinandergeprallt sind. Wichtig ist, dass wir wirklich historische Momente hervorheben, Momente, die tatsächlich stattgefunden haben.

Lena Schulze Frenking: Viele wissen nicht, dass an diesem Platz schon sehr viele krasse Sachen passiert sind. Die kommen in unseren beiden Touren – es gibt parallel eine auf Deutsch und eine auf Englisch – immer wieder zur Sprache.

Was ist denn passiert?

Philipp Urrutia: Da wäre zum Beispiel ein Polizistenmord, der 1931 stattgefunden hat. Erich Mielke, der spätere Chef der Stasi, hat hier tatsächlich zwei Polizisten erschossen. Und dann ist hier natürlich auch viel passiert, was mit der Volksbühne zu tun hat. Vieles davon ist ja gar nicht so lange her.

Lena Schulze Frenking: Die Querdenker-Bewegung hat hier in Corona-Zeiten demonstriert. Man könnte sogar sagen, sie hat hier ihren Ursprung genommen.

Philipp Urrutia: Unser Format ist wirklich primär eine Stadtführung. Wenn man zu uns kommt, auch ohne vorher zu wissen, worum es geht, erfährt man vor allem etwas über die Gegend, also über das ganze Areal vom Rosa-Luxemburg-Platz seit seiner Entstehung.

Zum Format: Wie kam die Idee, als Theaterkollektiv eine Stadtführung zu machen?

Philipp Urrutia: Das war ein bisschen den Umständen der Pandemie verschuldet. Wir haben damals geguckt, was man machen kann, was nicht auf einer Bühne in einem geschlossenen Raum stattfindet, und vor allem auch nicht online. Sondern etwas ganz Echtes, mit Zuschauer:innen und Schauspieler:innen.

Lena Schulze Frenking: Vor allem findet es draußen statt. Die Leute können Maske tragen und Abstände einhalten, wenn nötig.

Philipp Urrutia: Bei der Planung sind wir vom Worst Case ausgegangen, von den Maßnahmen vom September 2020: Zehn Leute dürfen sich draußen mit Abstand treffen. Unsere Schauspieler:innen tragen ein Visier, und Sachen werden mit Handschuhen ausgegeben. Das Hygienekonzept ist also auch eigentliches Konzept der Inszenierung.

Fühlt es sich falsch an, ein Hygienekonzept zu haben, jetzt, wo sich die Welt langsam wieder öffnet?

Philipp Urrutia: Das macht eigentlich keinen Unterschied. Unser Stück ist ja schon ein bisschen anachronistisch. Und in unserer fiktiven Zukunft gehen wir ja wie gesagt eh davon aus, dass der Lockdown niemals geendet hat. In unserer Realität ist also alles, was passiert, ganz normal.

Was sind die Möglichkeiten und Besonderheiten bei der Arbeit mit dem Medium Stadtführung?

Florentine Schara: Ich finde total spannend, dass man im öffentlichen Raum ständig überrascht wird, weil unvorhersehbare Dinge passieren können. Das interessiert mich als Spielerin sehr, weil ich besonders wach sein muss. Alles gehört plötzlich zur Performance. Da geht jemand mit seinem Hund spazieren und ist dann plötzlich Teil der Performance. Als Zuschauer:in weiß man aber nicht: Soll der jetzt da sein oder ist der zufällig hier?

Philipp Urrutia: Wir haben auch die Erfahrung gemacht, dass sich die Leute durch das Flanieren besser auf das einlassen, was passiert. Es gibt eine gewisse Leichtigkeit, und die Zuschauer:innen sind schneller dabei, wenn die Schauspieler als Tourguides angesprochen werden. Dadurch, dass wir uns im öffentlichen Raum befinden und wir unseren Zuschauer:innen viele Fakten zumuten, haben sie gar nicht die Möglichkeit, das Ganze wie in einem Theatersaal sitzend groß in Frage zu stellen. Man kann viel behaupten und die Leute schnell in eine andere Realität mitnehmen.

Lena Schulze Frenking: Das tolle ist auch, dass das Publikum ganz viele kleine Geschichten über den Ort hört, an dem es sich gerade wirklich befindet. Da wurde mir im Nachhinein oft gesagt, dass das etwas ganz Besonderes hatte.

Zum konkreten Ort: Woher kommt euer Interesse am Rosa-Luxemburg-Platz?

Philipp Urrutia: Das kam zuerst von mir, weil ich nicht weit vom Platz wohne. Das hat mit der Besetzung der Volksbühne angefangen, wo ich mich fragte: Was ist das hier eigentlich für ein Konflikt? Und dann kam Lena dazu und wir haben gesehen, wie aufgeladen der Platz mit geschichtlichen Konflikten ist.

Lena Schulze Frenking: Ich wusste von vielen Sachen am Anfang gar nicht, die hier stattgefunden haben. Dann haben wir angefangen zu recherchieren und es war verrückt, wie unglaublich viel hier passiert ist.

Was habt ihr durch die Arbeit an dem Projekt gelernt?

Florentine Schara: Ich habe super viel über die Gegend hier gelernt. Ich war in dem Ganzen gar nicht bewandert, obwohl ich 18 Jahre gar nicht weit weg von hier gewohnt habe, und auch immer im Babylon-Kino und in der Volksbühne war. Inhaltlich fand ich die Entstehung unserer fiktiven Welt total spannend, in die ich als Schauspielerin ja erst später eingestiegen bin. Faszinierend, was passiert, wenn man verschiedene Ideen zusammensetzt und schaut, was passiert. Ich mag unsere Prämisse: Der Rosa-Luxemburg-Platz als Zone, in der man sich nicht zu lange aufhalten sollte, sonst gerät die Welt, deine Welt, aus den Fugen.

Lena Schulze Frenking: Dass Theatermachen im öffentlichen Raum funktioniert, und zwar mit relativ wenigen Mitteln. Und dass es dann total Sinn ergibt, für das Publikum, für einen selber, wenn man dann mit dabei ist. Zu sehen, dass man komplexe Zusammenhänge besser erklärt, wenn man erstmal einen Schritt zurückgeht. Auf einer spielerischen, simplen Eben ergeben die Dinge für die Leute erstmal oft viel mehr Sinn.

Philipp Urrutia: Ich mag, wie viele unterschiedliche Sachen die Leute mitgenommen haben. Was wir hier machen hat ja schon einen experimentellen Charakter, aber die Leute schaffen es dann doch, sich auf die von uns geschaffene Hyperrealität einzulassen. Was wir machen, muss vor allem kurzweilig sein. Dass wir das mit so einem Projekt wie diesem geschafft haben, war toll.

Habt Ihr Wünsche für die Zukunft?

Philipp Urrutia: Unser Stück setzt sich zwar mit der Vergangenheit auseinander, aber es ist kein dokumentarisches Stück. Das ist wichtig. Unser Stück lässt sich eben nicht gut in eine bestimmte Kategorie einordnen. Das würde ich mir für die Zukunft wünschen: Dass die Menschen, die sich mit Theater befassen, auf Projekte, die sich nicht so einfach einordnen lassen, neugieriger werden.


Die Stadtführung findet am 25. und 26. Mai um 20 Uhr auf dem Rosa-Luxemburg-Platz statt. Tickets gibt es über das Performing Arts Festival Berlin. Wer von dem Rosa-Luxemburg-Platz und der dazugehörigen Fiktion des Kollektivs nicht genug kriegen kann, hat die Möglichkeit, auch noch in einem Wiki zum Projekt zu schmökern oder sich einen Podcast aus der Zukunft dazu anzuhören.