Annett Hardegen untersucht in ihrem Musiktheater „Mach mir Angst. Komm näher!“ in der Vierten Welt Möglichkeiten, über Alters-, Geschlechts- und andere Identitätsgrenzen hinweg im Dialog zu bleiben.
Von Veronika Malaschonok
Drei Tode prägen diesen Abend, und doch ist er nicht depressiv. Der erste begegnet uns noch vor der eigentlichen Vorstellung. Da stehen wir draußen am Kottbusser Tor im Nieselregen und warten auf den Einlass in die “Vierte Welt”, als jemand aus dem Team erwähnt, dass der Künstler, dessen Songs sie in diesem Stück covern, am Tag zuvor verstorben sei.
So kommt einem “Mach mir Angst. Komm näher!” noch vor dem Beginn ganz nah. Annett Hardegens (Alternative-Pop-)Musiktheaterabend will ja genau das: mit Geschichten über Alters-, Geschlechts- und andere Identitätsgrenzen hinweg einen Dialograum öffnen: Wer bin ich und wie passe ich hier rein?
Die Platzauswahl ist frei: Sitzsack, Stuhl, Bank oder Hocker. Vier Pfeiler mitten im weißen Raum verhindern, alles von jeder Position aus wahrzunehmen. Mit drei Leinwänden und vier Projektoren hat man aber viele Möglichkeiten, das Geschehen zu verfolgen – auch wenn es immer nur Ausschnitte sind (wie im echten Leben).
Auf der einen Seite stehen Mikrofon und die Soundkünstlerin Aiko Okamoto am Tonpult. Gegenüber befindet sich ein kleiner, mit einem durchsichtigen Vorhang abgeschirmter Raum mit Instrumenten. Leise, langsam erscheinen die Musiker, greifen zu Gitarren und Keyboard.
Auf die drei Leinwände werden Videoaufnahmen der eigentlichen Hauptdarstellerin (und Regisseurin) Annett Hardegen projiziert. Wegen eines positiven Coronatests kann sie nicht live dabei sein. Ihr Teenager-Sohn ist jedoch anwesend. Er steht vom in der Mitte der vier Pfeiler platzierten Bett auf, umgeht die zahlreichen Schuhkartons, die mit je einem Schuh ausgestattet sind, und gesellt sich zur Soundkünstlerin: “Ich singe jetzt ein Lied”.
Der Song ist von Lil Peep – man spürt, dass er eine besondere emotionale Verbindung zu dem Künstler pflegt. Danach zeigen Projektionen eine Frau und einen Mann. Beide erzählen von ihrer Jugend, beide haben dieselbe Pose. An der Wand hinter ihnen hängt ein kleines Foto, es zeigt jeweils die Abbildung der anderen Person. Der Mann erzählt in einer Aufnahme von seiner Suche nach einer Wohnung in Bremen. Schnell wird deutlich, dass der Mann queer ist. Er erzählt von der Begegnung mit einem Mann, mit dem er nach dem zweiten Treffen zusammengezogen ist: “Entweder beginnt jetzt hier eine Affäre oder wir suchen uns zusammen eine Wohnung.”
Der zweite Tote des Abends: Seine Bekanntschaft starb wenige Jahre später an AIDS. Zugleich wird die Pandemie zu einem Neubeginn: Während vorher schwule Männer wild unterwegs gewesen seien, habe sich mit AIDS eine Community gebildet.
Später erzählt der Junge von der Verkaufsplattform Stock X, von teuren Schuhen, Lieferpreisen und guten Deals. Er trinkt Arizona Tea, verbindet sein Handy mit einer Musikbox und erzählt von seiner Generation, der Generation Z. Auch sie hat, auf ganz andere Weise, Erfahrung mit dem Sterben gemacht: So erzählt er von Lil Peeps frühem Tod.
Die Gefühle von Angst und Trauer, von schlechten Zeiten und schönen Momenten liegen an diesem Abend nah beieinander. Zugleich herrscht eine große Entspanntheit im Raum, während die Performer:innen von Liebe singen und von Verlust sprechen. Es wird nicht geurteilt, nicht verglichen, sondern erzählt und zugehört, gezeigt und geteilt. Noch nie war ich so entspannt im Theater. Als würde man an einer gemütlichen, entspannten Unterhaltung teilnehmen.