Von Kseniia Ignatova

Anna, kurz nach dem Ausbruch des Krieges, den Russland gegen die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 führt, bist du nach Berlin gezogen. Warum?

In Russland wurde ich wie viele politischen Künstler*innen für meinen Aktivismus verfolgt. Als der Krieg ausbrach, musste ich sehr schnell eine Entscheidung treffen, weil unklar war, wie lange man das Land noch würde verlassen können. Ich hatte zwei Varianten: Nach Istanbul zu gehen, wo ich niemanden kannte, und nach Berlin, wo ich schon oft an den Theaterworkshops teilgenommen hatte. Als ich gesehen habe, dass das Flugticket nach Istanbul 400 Euro kostete und das nach Berlin 410 Euro, war die Entscheidung klar. Außerdem habe ich im Januar 2022 eine Meditation über meine Zukunftspläne gemacht. Bei dieser Meditation sollte ich mir vorstellen, wie mein Leben in einem Jahr aussieht. Ich stellte mir vor, dass ich in Berlin bin, in einer großen Altbauwohnung wohne, Theater mache und einen kurzen Pony trage. In der Meditation gab es die Frage: „Was kann ich jetzt tun, damit diese Zukunft Wirklichkeit wird?“. Am selben Tag habe ich mir einen Pony schneiden lassen. Zwei Monate später war ich in Berlin.

 

Was wurde aus deinem Theater „Urban Forest Echo“ in Moskau?

Das Theater existierte noch einige Zeit weiter, die Schauspieler haben weiter gespielt. Im Mai 2022 nahmen sie sogar am Festival "Наш Кислород" (engl. Our Oxygen) für zeitgenössisches Drama teil und gewannen dort den zweiten Platz für das beste Stück. Doch dann hörte das Theater auf zu existieren: Die Schauspieler sind ins Ausland umgezogen, ich war weg – jedes Theater braucht eine Leitung. Ohne mich entstanden keine neuen Inszenierungen und alles löste sich auf einer natürlichen Weise auf.

 

Deine Inszenierung „The run. Refugee rave“ basiert auf dem Theaterstück „Die Flucht“ (Russisch: Бег) von Michail Bulgakow. „The run“ hat acht Teile, jedes davon wird als „Traum“ bezeichnet. Wie bist du zu dieser Idee gekommen?

Die Idee kam auf eine sehr seltsame Weise, wie immer. Am 4. März kaufte ich ein Ticket nach Berlin und am 6. März musste ich fliegen. Ich war sehr nervös, hatte zwei Tagen vor dem Abflug nicht geschlafen und packte mein ganzes Leben in einen kleinen Koffer. Ich hatte Angst, dass mein Handy an der Grenze überprüft wird und musste alle verdächtigen Posts in den sozialen Netzwerken löschen, was in meinem Fall bedeutete, meine Netzwerke vollständig zu löschen. Schließlich bin ich ins Flugzeug gestiegen und aus irgendeinem Grund wollte ich Bulgakows „Flucht“ lesen. Und während zweier Tage in Istanbul und später in Berlin habe ich viele Menschen kennengelernt, auch viele Ukrainer*innen, die mir über ihre Flucht erzählten. Sehr viele haben ihre Erfahrung als „Traum“ oder „Albtraum“ beschrieben. Dann dachte ich, es wäre cool, eine Inszenierung zu machen, die die Struktur von „Flucht“ nachbildet, das heißt, es würde acht Geschichten enthalten, acht Orte auf einer Karte, aber es wären Geschichten über heute.

*“Бег“ (Beg) von Michail Bulgakow wird aus dem Russischen als „Lauf“ übersetzt. Deswegen heißt das Stück „The run. Refugee rave“

 

Wie hast du nach einer Finanzierung für das Stück gesucht? War das schwierig?

Ich hatte das Gefühl, dass ich dieses Stück um jeden Preis machen würde. Ich habe überall nach Fördermitteln gesucht. Wenn ich keine Förderung bekommen hätte, dann hätte ich nach Sponsoren gesucht und verschiedene Stiftungen angeschrieben. Anfangs probten wir ganz ohne Geld in einem Tango-Studio, wo uns ein Saal kostenlos zur Verfügung gestellt wurde. Die Suche nach der Finanzierung war wie die Wohnungssuche in Berlin, nur schlimmer. Und gerade als ich die Hoffnung fast aufgegeben hatte, bekam ich im Dezember eine Antwort von dem Fond Darstellende Künste.

 

Wie sieht die Suche nach Fördermitteln in Russland aus?

In Russland gibt es verschiedene staatliche Fonds und Stipendien des Präsidenten. Das war nichts für mich: Ich wollte auf keinen Fall Geld von einem Staat annehmen, den ich nicht unterstütze, weil ich nicht will, dass die Behörden mein Theater beeinflussen. Ich wollte das Theater für alle zugänglich machen, damit jeder eine Eintrittskarte kaufen konnte. Deshalb habe ich für meine beiden Aufführungen in Russland Crowdfunding oder den Verkauf von Merch genutzt, und beide Male hat es gut funktioniert. Es schien mir der fairere Weg in Russland zu sein.

 

Wie bist du auf das Format des Theatre-Rave gekommen?

Ich hatte diese Idee schon in Moskau: Theater + Rave. In Moskau haben wir ein Stück nach Anton Tschechows „Onkel Wanja“ mit einem DJ-Set aufgeführt. Wir haben das Stück sowohl in Theatern als auch in Clubs gespielt. Ich mag das Format des Theaters ohne vierte Wand. Es gibt dem Publikum das Gefühl, dass die Bühne für alle da ist und die Schauspieler und die Regisseurin keine himmlischen Wesen sind. In Russland gibt es ein sehr hierarchisches Theater, im Grunde ein kleines Modell des Staates selbst. Die Regisseurin hat das Sagen und niemand wagt es, ihr in die Quere zu kommen. In Russland sagt man sogar "im Theater dienen", anstatt „zu arbeiten“ oder „zu spielen“. Das Theater ist kein Tempel, sondern eine Form der Kommunikation. In der Kommunikation gibt es immer zwei Seiten, aber im Tempel ist die Kommunikation einseitig. Und die Form des Theater-Raves ist ein Abbild des horizontalen Theaters.

 

Hast du ein Zielpublikum für dein Stück?

Natürlich kann jeder etwas anderes in der Aufführung sehen. Aber ich habe den Eindruck, dass sich das Stück vor allem an junge, freie Menschen richtet. Vielleicht auch Menschen mit einem Migrationshintergrund. Insgesamt ist das Stück für Menschen gedacht, die bereit für etwas Neues sind. Berlin ist eine sehr kosmopolitische Stadt, deshalb wollten wir zeigen, wer wir als Menschen aus verschiedenen Ländern und mit verschiedenen Hintergründen sind. Und auf diese Weise das Publikum näher an uns heranführen.

 

Mit welcher Art von Schauspielern möchtest du arbeiten?

Mit Schauspielern, die ihre eigene Position haben. Für mich ist es wichtig, mit dem Schauspieler im Dialog zu sein, dass man die Verantwortung für seine Arbeit trägt. Manchmal bin ich daran interessiert, mit Leuten zu arbeiten, mit denen ich nicht in allem übereinstimme, weil man auf diese Weise neue Lösungen und Ideen entwickeln kann.

 

Würdest du dich als russische Regisseurin bezeichnen?

Heute fällt es mir sehr schwer, mich als russische Regisseurin zu bezeichnen. Meine Arbeit hat im Moment nichts mit Russland zu tun. Meine Inszenierung läuft in Berlin, alle Schauspieler wohnen in Berlin, wir spielen in einem Berliner Theater. Es ist ein Berliner Projekt und ich bin jetzt eine Berliner Regisseurin. Ich finde, Berlin ist eine wunderschöne Stadt, in die Menschen aufgrund ihrer Werten und Prinzipien ziehen.

 

Gibt es schon zukünftige Projekte oder andere Pläne in Berlin?

Ja, am 4. Juni hat "Der kleine Prinz" im Ballhaus Prinzenallee Premiere, ein deutschsprachiges Projekt. Ursprünglich wurde mir vorgeschlagen, eine Kindershow zu machen. Aber das fand ich langweilig. Ich wollte ein Stück inszenieren, das sowohl Kinder interessiert als auch ihre Eltern. In meiner Kindheit habe ich das Buch nicht gemocht und ich sah dieses Projekt als Gelegenheit, Antoine de Saint-Exupérys Erzählung auf eine andere Art und Weise zu betrachten und zu verstehen, was genau ich damals nicht mochte. Und jetzt, während des Probenprozesses, habe ich bereits ein Interesse an der Geschichte entwickelt.