Von Alicia Heyden
Als Kulturwissenschaftlerin und Regisseurin für inklusives Theater arbeitet Christine Vogt schon seit mehreren Jahren mit dem Theaterensemble PAPILLONS zusammen. Im Rahmen des Performing Arts Festivals nehmen sie ihr Stück „Schatten Sammeln“ wieder auf. Ein Gespräch über die Kunst unter Einfluss des Alters, der Krankheit und dem Tod.
Wie würdest du deinen Arbeitsalltag im Moment mit drei Worten beschreiben?
Herausfordernd. Sehr intensiv. Optimistisch, dass alles gut läuft. Ich bin im Pflegewohnheim „Am Kreuzberg“ mit einer festen Stelle als Betreuungsassistentin tätig, das hat ganz bestimmte Rahmenbedingungen und andererseits bin ich praktisch eine freie Regisseurin. Das heißt, ich habe sehr viel von der Produktion an der Backe. Zum Glück arbeite ich zusammen mit der Stiftung Unionhilfswerk Berlin, welche Träger des Projektes ist, aber dennoch mache ich die Regie, schreibe das Stück und kümmere mich noch um sehr viel mehr.
Seit 2015 bist du schon kreative Leitung des Theaterensembles PAPILLONS. Wie haben sich du und das Pflegewohnheim „Am Kreuzberg“ damals überhaupt zusammengefunden?
Ich habe bereits vor vielen Jahrzehnten das Theater Thikwa für Menschen mit Behinderung gegründet. Dieses habe ich nach vielen, vielen Jahren verlassen und als ich selbst älter geworden bin, kam mir die Idee, mit demenzerkrankten Menschen zu arbeiten. Und dann bin ich 2015 einfach ganz kühn zur Wohnstätte „Am Kreuzberg“ hin und habe der damaligen Leitung gesagt: „Ich möchte Ihnen ein künstlerisches Projekt vorstellen.“
Und wie wurde das dort von den Bewohner*innen aufgenommen?
Das ist tatsächlich dort offen angenommen worden. Nach allen Formalien und was eben so dazugehört, habe ich im großen Pool der Bewohnerschaft und des Personals immer mehr Vertrauen gewonnen, so dass das alles relativ schnell ging und wir 2016 bereits die erste Premiere machen konnten. Bis heute kann ich mir aus dem Pool der Interessierten im Grunde Personen aussuchen, die zum Ensemble passen, die Lust haben und wirklich auftreten möchten vor Publikum, die sich nicht schämen.
Was hat es mit eurem Namen „PAPILLONS“ auf sich?
Das ist Französisch und heißt „Schmetterlinge“. Die Schmetterlinge als Insekten gefallen mir unglaublich gut, weil sie erstens sehr farbig, schillernd und farbenfroh sind, andererseits geben sie stets alles und leben nicht lang. Das ist es genau, denn ich habe mit alten und hochaltrigen Menschen zu tun, von denen über die Hälfte an Demenz erkrankt sind, und die sind eben alle unglaublich unterschiedlich und haben leider auch keinen langen Horizont mehr vor sich. Der jüngste ist an die 70, aber die meisten zwischen 80 und 100 Jahre alt.
Warum genau die Theaterarbeit mit demenzerkrankten Menschen?
Ich bin Kulturwissenschaftlerin, weshalb es mir wichtig ist, dass die Geschichten dieser früheren Generation weitererzählt werden und auf die Bühne kommen. Was wir machen, ist keine soziale Arbeit. Die Menschen möchten selbstverständlich vor ein Publikum treten und erzählen. Sie sagen selbst: „Wir sind Teil eurer Geschichte, wir erzählen euch von uns.“ Ich sage immer wieder und wieder: Wir finden spezifische, neue Theaterformen auf Grundlage der Demenz. Für mich ist die Demenzerkrankung eine künstlerische Frage, ein künstlerisches Problem, denn man kann ja nicht wiederholen lassen. Die Akteure und Akteurinnen können sich an kein einziges Stichwort erinnern, zum Beispiel was den Ablauf einer Performance betrifft. Da kannst du nicht sagen: „Du bist dran, nachdem das Lied XY aufhört.“ Deswegen müssen wir im Team stets neue Lösungen finden. Das ist herausfordernd, aber eine tolle künstlerische Provokation.
Wie können wir uns das Training eures Ensembles dann vorstellen? Gibt es da einen festen Ablauf?
Ja. Ich habe zum Beispiel eine Akteurin dabei, die spielt immer, immer Mundharmonika. Sie spielt also vorher ein Lied, das nennt sich „Der Trommler“, und wir machen dann jedes Mal eine Percussion-Session dazu. Das ist ein kleines Ritual bei uns. Ansonsten dienen unsere Treffen der Recherche. Die Themen setze ich und dann fangen wir an zu recherchieren und stellen einander unsere Ergebnisse vor, denn das ist ja alles biografisch-performatives Theater. Da wir uns keine Vorlagen aus der Mythologie, der Literatur oder dem Märchen nehmen, müssen wir das Stück an alle Akteure und Akteurinnen anpassen.
Auch im Stück „Schatten Sammeln“ treffen die Bereiche Poesie und Musik aufeinander. Wie funktioniert dieses Zusammenspiel für euch?
Es ist so: Aldona Gustas, eine sehr bekannte Schriftstellerin und unsere Impulsgeberin, hat immer sehr poetisch geschrieben, sehr schräg. Also auf keinen Fall so wie im typischen Poesiealbum. Im hohen Alter hat sie in meiner Poesiewerkstatt, die ich während des Lockdowns eröffnet hatte, für uns immer den Gedichtanfang gesetzt. Sie setzte zum Beispiel den Anfang eines Gedichtes mit „Bevor ich den Löffel abgebe, möchte ich …“ und da haben alle ganz eifrig angefangen zu dichten und zu texten. Diese Gedichte sind durch die Demenz mancher Beteiligten durchaus etwas schräg. Nicht so konventionell. Poetisch eben. Und dann habe ich eine große Vorliebe für die sogenannte Neue Musik. In diesem Stück haben wir Mike Flemming, ausgebildeter Komponist für Neue Musik, und der macht ganz schräge, tolle Töne auf seiner Viola. Er hat sich die Gedichte durchgelesen und auf diesem Hintergrund angefangen zu komponieren. Wir haben uns zum Glück sehr schnell zusammengefunden, darüber wo er unterbrechen kann, wo er auch mal parallel spielen kann. Seine Musik ist nicht einfach nur Hintergrund und auf gar keinen Fall nur Illustration. Das ist eine sehr sensible, frei-erfundene Musik und befruchtet das Stück enorm.
Aldona Gustas ist im Dezember 2022 leider gestorben. Inwiefern hat das euch und die Wiederaufnahme des Stückes beeinträchtigt?
Der Tod ist bei der Arbeit im Pflegeheim natürlich immer ein Thema. Es gibt zwei Personen, die sind schon von Anfang an dabei, die leben noch. Ansonsten hat sich das Ensemble fast komplett ausgetauscht. Ich hatte mehrere Akteure und Akteurinnen, die bis ins hohe Alter mit 97, 98, noch auf der Bühne standen oder eben im Rollstuhl saßen. So gut wie alle von ihnen sind geblieben, bis zum Tod.
Wie geht ihr damit um?
Es ist mein Anliegen und mir unfassbar wichtig, dass in jeder neuen Vorstellungsrunde der Stücke, die Menschen, die also verstorben sind, geehrt werden. In diesem Fall sind zwei Akteurinnen von uns gegangen. Wir ehren sie in diesem Jahr durch eingespielte Interviews und Kunstfilme, damit sie eben noch dabei sind und wir nicht nur ihre Namen erwähnen. Das ist für mich ein großer technischer Aufwand, denn ich muss den Film schneiden und darauf achten, dass die Personen durch den Film trotzdem auf die Leinwand kommen. Ein „Sie sind leider verstorben“ ist da aber einfach nicht genug.
Warum ist „Schatten Sammeln“ ein Stück, das die Leute sehen sollten?
Es gibt ein großes Vorurteil und vor allem auch sehr viel Angst unter jungen Leuten, was das Pflegeheim angeht. Ich möchte gern, dass diese Schranke überwunden wird durch unsere künstlerische Arbeit, die hinter der Pforte stattfindet. Mir ist vor allem wichtig, dass das kulturelle Gedächtnis dieser schwindenden Generation auf junge Menschen, Theaterinteressierte und unser Publikum übertragen wird. Wir eröffnen mit „Schatten Sammeln“ einen Raum, der danach strebt, das Archiv dieser alten Menschen zugänglich zu machen, das aus jahrzehntelangen Erinnerungen und Erfahrungen verschiedenster Volumina besteht, von Weltkriegen bis hin zur Flucht. In Afrika gibt es dafür ein tolles Sprichwort: „Wenn ein alter Mensch stirbt, brennt eine Bibliothek“. Ich sehe es als unsere Aufgabe, diese Bücher vor dem Verbrennen zu retten.