Von Tommy Lehmpuhl
Helgoland ist eine Insel in der Nordsee mit einer Gemeinde aus 1284 Einwohner*innen. Sie hat eine Fläche von 4,21 Quadratkilometern und spielte in der Weltgeschichte häufiger eine Rolle. Für diesen Text ist die Insel aber nur wichtig, weil David Fernandez, Almudena Vernhes und Julia Biłat sie in „Goat Sessions #5” zu ihrem Ziel machen. Ihre Performance soll der Finanzierung einer Schiffsfahrt von der Spree bis nach Helgoland dienen. Konsequenterweise wird ihre mehrteilige Performance im Hošek Contemporary gezeigt, dem Unterdeck eines Bootes auf der Spree.
Etwas unheimlich fühlt es sich an, als ich über knarzende Holzplanken diesen dunklen, staubigen Raum der ausverkauften Aufführung betrete. Auf eine Leinwand im Hintergrund wird projiziert, was ein Smartphone auf der kleinen Bühne filmt. „Touching Extremes” heißt der Abend im Untertitel, und das ist eine Untertreibung. Fernández‘ Inszenierung „berührt” nicht allein das Extreme. Sie suhlt sich in ihr, in allen Formen, Farben und Tönen. Etwa wenn die drei Akteur*innen die Kamera ihrer Smartphones nutzen, um die unangenehmen, intimen Körperstellen der Anderen zu filmen.
Zwischendurch nimmt Fernandez die Kamera mit auf das obere Deck des Bootes, um sich selbst dabei zu filmen, wie er in die Spree springt. Für mehrere Minuten sitzt das Publikum da und starrt perplex auf die Leinwand, bis Fernandez komplett durchnässt wieder auf die Bühne kommt. Eigentlich kompletter Wahnwitz, aber im Gefüge der Performance eine folgerichtige Handlung.
Diese hybride Beziehung mit der Leinwand drängt die Zuschauenden in unbekannte Grenzüberschreitungen mit den Menschen auf der Bühne. Hier geht es offenbar darum, das Publikum in der knappen Stunde Spielzeit zu überreizen. Harmonisch arbeiten die drei Agierenden auf der Bühne miteinander, um die Zuschauenden mit Dissonanzen zu zermalmen.
In den kurzen Verschnaufpausen frage ich mich: „Sehe ich Leuten dabei zu, wie sie durchdrehen oder drehe ich durch?” Mehrmals traue ich mich nicht, mich zu bewegen oder sogar zu atmen, da die Spannung im Raum allein genügt, um den Motor anzuschmeißen und einmal nach Helgoland und zurück zu fahren.
Das Stück selbst verspricht eine Reise ohne Wiederkehr in „das Herz der Finsternis” – eine Reverenz an Joseph Conrads gleichnamigen Roman, der zeigt, wie dünn der Firnis der Zivilisation ist. Mit purem Charisma bringen die Darsteller*innen hier Licht ins Dunkle. Ich hing an allen ihren Bewegungen und bedauerte das Blinzeln, um mir ihre Präsenz nicht entgehen zu lassen. Das gesamte Ambiente und das Konzept lassen keine Fragen nach Logik zu. Wer hier nach einem Sinn sucht, geht unter.
Mein ängstliches Bauchgefühl vor dem Ungewissen, also dem, was mich in diesem Unterdeck erwartete, konnte ich in den ersten Minuten schwinden spüren. Einen genauen Moment kann ich dabei nicht festlegen. War es, als Fernandez eine Ziege spielt, die ein Pferd imitiert? Oder als Vernhes zu den Klängen von Bach so leicht wie eine Feder tanzt? Es könnte auch Biłat gewesen sein, die das Cello spielt, als wäre es das letzte Mal. Das Staunen über die obszönen Ereignisse auf der Bühne wird direkt übertroffen mit der nächsten Darbietung von absolutem Wahnsinn. Ist das absurdes Theater? Ist das hohe Kunst? Es ist absurd hohe Kunst!