Was morgen ist
Von Tommy Lehmpuhl
Das Ballhaus Prinzenallee ist eigentlich ein gemütlicher Ort: Eine Bar und bequeme Sitzmöglichkeiten erzeugen ein trügerisches Gefühl von Sicherheit. Damit ist es aber schnell vorbei. Schon beim Einlass an der Tür werden die Eintrittsstempel von zwei groben, vermummten Menschen in schwarzer Kleidung kontrolliert. Drinnen patrouillieren weitere Vermummte um die Sitzreihen herum, beobachten das hereinkommende Publikum.
Längst hat also „The Run: Refugee Rave“ begonnen, als das Licht erlischt. Anna Demidovas Abend reflektiert und kommentiert darin den Krieg durch Sprache, Bewegung und Musik. Dabei ist es zunächst gar nicht so einfach, das Geschehen zu entschlüsseln. Immer neue Alptraumszenen reihen sich aneinander. Sie alle spielen im Krieg, zeigen in acht Teilen verschiedenen Seiten der Flucht.
Demidova ist selbst kurz nach Kriegsbeginn 2022 aus Russland geflüchtet. Inspiriert wurde sie einerseits von Michail Bulgakows Stück „Die Flucht“, das von den Rückzugsgefechten der „Weißen“ nach der russischen Oktoberrevolution um 1920 herum auf der Krim und vom Leben im Exil erzählt. Von Bulgakow stammt auch der Titel des Abends, denn „Бег“ (Beg), so Bulgakows Originaltitel, wird auch als „Lauf“ übersetzt. Inspiriert wurde die Regisseurin zudem durch Gespräche mit anderen Geflüchteten, die sie auf ihrer eigenen Flucht traf.
Schnell wird an diesem Abend klar: Der Krieg ist noch lange nicht vorbei. Demidova konfrontiert das Publikum in einem bildgewaltigen Pandämonium mit Stress und Gewalt, Tanz und Techno. Im Stück wird betont, dass es sehr viele Perspektiven auf diesen Krieg und ihre Konsequenzen gibt. Entsprechend vielfältig sind die Bilder und Erzählungen, entsprechend hart die Kontraste. Herrschte eben noch grelle Verfremdung, gibt es plötzlich einen dokumentarischen Bericht. Witz prallt auf Schrecken, das Lachen bleibt einem im Hals stecken. Eben noch stürzten sich einige der acht Darsteller*innen – Anna Tambova, Melaniya Kobaliya, Marina Kurochka, Oksana Borysenko, Ilya Khodyrev, Amelia Motea, Beatrice Del Bo, Oleksii Vinichenko – in eine Essensschlacht. Jetzt schildert jemand ergreifend den Kriegsausbruch.
So wirkt der Abend wie ein Reigen der gespensterhaften, schnell geschnittenen Bilder aus Licht und Schatten: Harlekins, Soldat*innen, eine Königin, Menschen in Lack und Leder, ausgestattet von Aleksandra Kharina, tauchen aus dem Nebel auf und verschwinden wieder in ihm. Er wabert in der Luft wie die Gefahr, die man nicht immer sehen kann, die aber trotzdem da ist.
Alles also Schrecken und greller Witz, Kampf und Chaos? Am Ende verführt Demidova das Publikum dazu, auf der Bühne zu tanzen, zu lachen oder den Moment wertzuschätzen. Denn wer weiß schon in Zeiten wie diesen, was morgen ist?