Sophie Blomen, Vera Moré und Max Reininger haben gemeinsam an der Universität Hildesheim studiert und in verschiedenen Konstellationen bei künstlerischen Projekten mitgewirkt. „Vor Sonnenaufgang“ ist ihre erste gemeinsame Arbeit. Frei nach Gerhard Hauptmann untersuchen sie die Konsequenzen von Alkoholismus in Familie und Gesellschaft.
Von Mascha Schornstheimer
Sophie, Vera, Max, warum braucht die Freie Szene ausgerechnet eine Inszenierung von Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“?
Sophie Blomen: Eigentlich wollte ich ein Stück über meine Familiengeschichte machen und hatte dann das Gefühl, ich brauche noch einen anderen Text, einen, der zu mir wieder Distanz aufbaut. Hauptmann war Mittel zum Zweck. In der Auseinandersetzung mit „Vor Sonnenaufgang“ war es interessant, über meine Geschichte nachzudenken, dann aber auch wieder über eine deutsche Geschichte und wie die Gesellschaft durch diese Geschichte geworden ist, wie sie ist. Die Auseinandersetzung mit alten Sachen, um etwas über die Gegenwart zu erzählen oder rauszufinden, finde ich interessant – auch für eine Freie Szene.
Max Reininger: Wir inszenieren ja nicht das Stück, sondern nehmen es als ein Dokument für die Zeit, aus der es kommt und auch als Projektionsfläche dafür, wie wir uns Geschichte vorstellen. Ich finde es auch ganz witzig, diesen Hauptmann-Stoff jetzt zu machen, weil der ja selbst im Nicht-Freie-Szene-Theater schon ein bisschen sehr old school ist.
Vera Moré: Es gibt bestimmt viele Leute, die nur den Titel lesen und denken: Was soll das denn jetzt, so ein Dramen-Text in der Freien Szene? Aber eigentlich ist das erst mal ein Material, anhand dessen wir über Theater sprechen können oder darüber, wie Texte im Theater inszeniert werden und was das für Themen mit sich bringt.
Sophie und Max, ihr habt ja schon gemeinsam geschrieben. Wie kam jetzt die Konstellation mit Vera zusammen?
Sophie Blomen: Wir haben alle drei zusammen in Hildesheim studiert. Ich hatte ein Solo-Stück von Vera gesehen, das ich sehr gerne mochte. Max kannte ich schon von früheren Zusammenarbeiten, das war eigentlich immer gut. Dann habe ich die beiden einfach gefragt.
Wie sah eure Zusammenarbeit konkret aus?
Sophie Blomen: Ich habe das Konzept geschrieben. In den Proben haben wir dann zu dritt gearbeitet. Zu Beginn blieben wir ganz nah am Text und den Figuren. Wir haben überlegt: Warum sind die so? Warum hat Hauptmann es so geschrieben? Dabei haben wir uns auch häufiger geärgert, weil viel einfach nicht zeitgemäß ist, falsche Sachen erzählt. Oft haben wir uns einzelne Szenen rausgesucht und dann hat jede:r von uns einzeln dazu szenische Aufbauten entwickelt. Dabei sind verschiedene Sachen herausgekommen, weil wir alle doch sehr unterschiedliche Perspektiven auf den Text hatten.
Max Reininger: Aber wir haben eher über den Text reflektiert, als uns so da so reinzubegeben. Das ist dieses Materialhafte, zu denken: Was an dem Text ist interessant, um heute Sachen zu verhandeln? Da steckt diese geschichtliche Komponente drin, dieses krass deterministische.
Was meinst du genau?
Max Reininger: Es gibt in „Vor Sonnenaufgang“ eine bestimmte Vorstellung davon, wie sehr Menschen mit bestimmten Krankheiten über ihr eigenes Leben verfügen können und das in der Hand haben oder in der Hand haben sollten. Oder, was Krankheit überhaupt bedeutet.
Sophie Blomen: Und auch wie Krankheit in einer Gesellschaft verortet wird, wie man kranken Menschen begegnet.
Konkret geht es um Alkoholismus und die These, dass er vererbbar ist. Inwiefern hat euch das interessiert oder zu dem Text gezogen?
Sophie Blomen: Das war die thematische Überschneidung zwischen meiner Familiengeschichte und dem Drama. Bei Hauptmann gibt es die Hauptfigur, Helene, die die Tochter eines starken Alkoholikers ist. Sie war eine Bezugsfigur zu meinen autobiografischen Erfahrungen. Man erfährt über Helene nur wenig, sie handelt kaum selbstbestimmt. Da hatte ich persönlich das Gefühl, ich bin in einer anderen Situation, wenn ich zum Beispiel entscheide, ein Theaterstück über meine Erfahrungen zu machen.
Max Reininger: Was auch eine Überschneidung ist: Bei Hauptmann besteht ja dieser Anspruch, die Realität möglichst naturalistisch abzubilden. In seiner Realität gibt es aber für alle Leute, die von Alkoholismus betroffen sind, keine Chance, nur den Tod. Und das ist dann auch wieder von der Form her eine Parallele, wenn Sophie sagt, ich erzähle was, was auch stimmt, weil ich hier stehe. Also mal abgesehen davon, ob das dann tatsächlich stimmt, aber die Behauptung ist ähnlich.
Vera Moré: Am Anfang haben wir tatsächlich erstmal viel über die Figur der Helene gesprochen. Darüber, wie sie erzählt wird, was sie für einen Handlungsspielraum hat. Wir sind dann zu dem Punkt gekommen, dass wir ein paar Szenen quasi nachspielen und es gibt zwei bis drei Momente, an denen wir tatsächlich Originaltext nehmen und auch Figuren auftauchen, die aber wiederum eher dazu dienen zu erzählen, wie erzählt wird.
Das klingt so, als ob in eurer Arbeit auch eine Verhandlung mit dem deutschsprachigen Kanon steckt. Warum hat euch das interessiert?
Sophie Blomen: Ich finde es gut, dass es in der Inszenierung nicht nur um meine Autobiographie geht, sondern auch um den Rahmen von Theater und wie man generell erzählt. Weil wir ja alle keine Schauspieler:innen sind und uns eher selten mit Dramentexten beschäftigen, war es auch leichter, so einen Kanon gar nicht so ernst zu nehmen oder da jetzt nicht so mit so einem krassen Respekt ranzugehen.
Vera Moré: In „Vor Sonnenaufgang“ gibt es die Erzählung, dass Alkoholismus vererbbar ist. Das hat man zu der Entstehungszeit des Dramas wirklich gedacht. Wir fanden es schwierig, diese Thematik auszusparen und das Stück einfach zu modernisieren. Wir hatten den Eindruck, dass diese Methode dazu führt, dass die in den Texten steckenden Strukturen und Problematiken unbewusst weiter bestehen bleiben.
Oder sie werden reproduziert.
Max Reininger: Ja, unbewusst.
Sophie Blomen: Genau. Wenn man diese Geschichte genauso erzählt, aber diesen ganzen Vererbungsteil einfach rausstreicht, weil man jetzt weiß, der ist nicht mehr aktuell, dann sterben die Figuren trotzdem. Und das setzt die Erzählung fort, diese Krankheit sei nichts, womit du so überleben oder Teil der Gesellschaft sein kannst. Auch wenn der Grund nicht mehr genannt wird, bleibt die Struktur drin. Unsere Vorgehensweise in der Inszenierung ist auf der Bühne zu sagen und zu erklären, dass die Dinge jetzt nicht mehr so sind, oder dass wir nicht mit ihnen übereinstimmen.
Ihr werdet beim PAF bei der Nachwuchsplattform "Introducing..." vorgestellt. Habt ihr euch dafür beworben?
Sophie Blomen: Ja, man konnte sich im Internet einfach über ein Formular und mit einer Videoaufzeichnung bewerben.
Und wie gings dann weiter?
Sophie Blomen: Dann haben wir eine Mail bekommen, dass wir eingeladen sind.
Vera Moré: Genau, die Bewerbung war auch speziell für das „Introducing…“ Programm.
Max Reininger: Im Vorfeld des PAF haben wir dadurch zum Beispiel Professionalisierungshilfe und Unterstützung bekommen.
Sophie Blomen: Das finde ich sehr positiv beim PAF, dass die so eine Plattform geben zur Sichtbarkeit und einen gleichzeitig als Nachwuchskünstler:innen ernst nehmen.
Klingt nach Sprungbrett. Würdet ihr sagen, dass euch das weiterbringt?
Sophie Blomen: Ich glaube auf jeden Fall, dass uns das weiterbringt. Es bestätigt uns natürlich auch, dass es Leute gibt, die denken, dass es sich lohnt, dass die Inszenierung von einem Publikum gesehen wird. Außerdem hat man durch den Festivalprozess viel Zeit, noch mehr zusammenzuarbeiten, indem man Wiederaufnahmeproben macht und durch Organisationsprozesse geht. In jeder Zusammenarbeit lernt man sich besser kennen.
„Vor Sonnenaufgang“ wird am 28.05. um 20:30 Uhr im Ballhaus Ost gezeigt.